Donnerstag, 3. Juni 2010

Beim Arzt in der Ukraine - die Stunde der (halben) Wahrheit

Der Fahrer des Seminars lenkt den Kleinbus über schlammige Wege durch ein Klinikgelände. Mit der Schulter hat er sein Handy an das Ohr geklemmt und empfängt von einer Frauenstimme die Wegbeschreibung. Noch um einen Block und dann eine verschlossene Tür. Das war die falsche. Nochmals zurück und auf die andere Seite dieses Gebäudes. Dort öffnet sich eine Tür und eine Krankenschwester erscheint - eine alte Bekannte des Fahrer. Über sie hat er den Arztermin organisiert. Ich bin gespannt. Nachdem meine Kur keine Verbesserung gebracht hatte, habe ich schweren Herzens in dieses Abenteuer eingewilligt. Es geht einen langen Gang entlang. Der beißende Geruch von billigem Desinfektionsmittel bleibt aus, auf den ich mich eingestellt hatte. Dann heißt es warten. Eine junge Ärztin erscheint und öffnet ihr Behandlungszimmer. Obwohl auch andere warten, sind wir gleich dran. Oleg übersetzt und ich werde nach allen Regeln der Kunst untersucht. Beim Abhören der Lunge stellt die Ärztin ein Geräusch fest. Sie verordnet mir eine ganze Reihe von weiterführenden Untersuchungen. Oleg notiert fleißig und lässt unauffällig ein paar Scheine über den Tisch wandern.

Zuerst geht es zum Röntgen. Das Wartezimmer sitzt voll von alten Babuschkas und einigen jungen, athletischen Herren. Wenn man von den vielen Aufschriften und Anweisungen am Anmeldeschalter absieht, die für mich unleserlich bleiben, könnte diese Röntgenabteilung auch irgendwo im Westen stehen. Nur einen streunenden Hund hätte man bei uns nicht herein gelassen. Mein Röntgenbild wird nicht erst auf Zelluloid gebannt, sondern erscheint sofort auf einem Computerbildschirm. Der behandelnde Arzt deutet auf eine Stelle unten im linken Lungenflügel und malt eine Skizze auf einen Notizzettel. Einen offiziellen Befund gibt es nicht - nur wieder die Geldscheine, die in die Kitteltasche des Arztes wandern. Beim CT läuft es ähnlich. Der Arzt sieht Bedenken wegen meiner Leber und kritzelt ebenfalls einige Bemerkungen auf einen Schmierzettel. Dann geht es zurück zur behandelnden Ärztin. Für sie ist die Diagnose klar: Lungenentzündung. Sie will mich stationär einweisen. Auf die Frage, ob diese Behandlung dann mit offizieller Rechnung bezahlt und ordentlich protokolliert werden kann, weiß sie keine sichere Antwort und greift zum Telefonhörer. Die zuständige Person ist nicht erreichbar. Zwei Wochen müsste ich rechnen für die Behandlung. Damit wäre klar, dass ich die restlichen Vorlesungen auch verpassen würde. Also macht nur ein baldiger Flug nach Hause Sinn. Man verschreibt mir einen großen Packen Medizin, der mich für die Reise über Wasser halten soll. Oleg bezahlt und wir sind draußen. Nein, unter den Umständen stationär behandelt werden, das kann ich mir nicht vorstellen.

Wer Lust hat über das deutsche Gesundheitswesen zu schimpfen, kann hier in der Ukraine geheilt werden. Die medizinische Versorgung wird für die Bevölkerung kostenlos angeboten. Das klingt zunächst gut - funktioniert aber nicht. Die Ärzte leben chronisch unterbezahlt und haben immer eine offene Hand für Nebeneinnahmen. Wer den offiziellen Weg zum Arzt beschreitet, kann schnell mal ein halbes Jahr auf einen Termin warten. Vermögende zahlen schon im Voraus an ihren Hausarzt ein jährliches Honorar und stellen auf diese Weise sicher, dass sie bei Bedarf gleich behandelt werden, so wird erzählt. Wer Dollars zur Verfügung hat, kann es sich leisten, krank zu werden. Doch wehe dem, der auf die Wohltaten von Vater Staat angewiesen ist.

Für mich zeigt sich jetzt als Vorteil, dass mein kleines Stadtrand-Motel über eine gute Internetverbindung verfügt. An der Rezeption erfahre ich “sechs mal die sechs” als Passwort und schon bin ich drin mit meinem kleinen Netbook. Keine zusätzliche Rechnung, keine weiteren Fragen. Per Skype rufe ich bei der Lufthansa an. Sie könnten mich auf den nächsten Flug morgen buchen - für den stolzen Aufpreis von über 500,- Euro. Ein Anruf bei der Versicherung zeigt, dass nicht ganz zu klären ist, ob diese Summe übernommen würde. Es gibt Alternativen. Eine rumänische Fluggesellschaft, von der ich allerdings zuvor nie etwas gehört hatte, bietet einen Flug an sogar nach Stuttgart, was mir viel gelegener käme. Der Preis steigt bei jeder neuen Abfrage. Ich rufe zur Sicherheit John Vogt an. Er kennt die Airline nicht. Als ich erneut die Webseite der rumänischen Airline aufrufen will, lande ich bei “Carpet Air” - die fliegenden Teppiche einer Fluggesellschaft aus dem Libanon. Das wird ja immer skurriler. Doch, richtig, die Rumänen heißen “Carpat Air” und würden mich erst in die Karpaten fliegen und dann mit einem Anschlußflug nach Stuttgart. Schließlich zücke ich meine Kreditkarte, tippe die Nummer ein und drücke auf “buchen”. Eine e-mail als Bestätigung folgt. Das wars. Habe ich jetzt wirklich einen Flug für morgen gebucht, oder nur meine Kreditkartendaten an irgendwelche Schwindler in Osteuropa geschickt? Nun, das wird sich morgen auf dem Flughafen zeigen. Ein etwas mulmiges Gefühl bleibt.

Am Abend bin ich nochmals bei Vogts eingeladen zum Abendessen. Der Abschied ist herzlich aber etwas schwermütig. Oleg hat dankenswerter Weise die Aufgabe übernommen, mich am nächsten Morgen früh schon um vier am Hotel abzuholen und die 100 km nach Lemberg zum Flughafen zu bringen - was bei den Straßenverhältnissen nicht in einer Stunde erledigt ist.

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